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Hommage für Trudi Schmucki

Report Nr. 9

Tanz Illustrierte Nr. 72, Oktober 1958


Europa-Meisterschaft in lateinamerikanischen Tänzen

Das schönste aller Fernseh-Turniere

Ronnaux zum dritten Male Europameister

Patrick-Key auf dem zweiten Platz

Das Ende der Rumba-Krise

Von Stuttgart nach Baden-Baden und Freudenstadt


Schalten wir noch einmal kurz zurück zu jener dramatischen Europameisterschaft 1956, deren Ergebnis zwei Jahre lang über den Spezialisten für lateinamerikanische Tänze lastete.

25 Jahre lang hatte die Rumba - gegen den erbitterten Widerstand der Engländer - gebraucht, um als Turniertanz anerkannt zu werden. Sie hatte schliesslich die Angelsachsen zum erstenmal Niederlagen auf dem Kontinent gekostet. Und nun war es ausgerechnet ein Londoner Paar, Patrick-Key, gewesen, das den mit Mühe und Not geschaffenen Standardisierungs-Rahmen durch Hineinnahme von Mambo- und Cha-Cha-Cha-Stilelementen gesprengt hatte. Es wurde von einigen Wertungsrichtern des Kontinents mit "englischen Waffen", das heisst mit den in der Hochburg des Gesellschaftstanzes entwickelten Methoden zur Verteidigung des reinen Stils, niedergepunktet. Die Sensation hatte damals das Schiedsgericht derartig verwirrt, dass sich ein Rechenfehler in das Gesamtergebnis einschlich. Da der Fernsehkommentator die tieferen Ursachen nicht hatte erläutern können, hatte die Übertragung für die turnierkundigen Zuschauer am Bildschirm damals mit einem Desaster geendet. Nicht nur, dass die Mitrechnenden den Kopf geschüttelt hatten, es war auch die Frage offengeblieben, weshalb die beifallumbrausten Patrick-Key so "schlecht" bewertet worden waren.

Zwei Jahre lang wogten die Auseinandersetzungen der Fachwelt über die Frage "reine Rumba-Bolero" oder "Rumba-Mambo-Cha-Cha-Cha-Cocktail" hin und her, und es war manchmal nicht zu sagen, ob sich der kontinentale oder der englische Standpunkt durchsetzen würde.

An dieser Frage scheiterte im vergangenen Jahr sogar die Durchführung einer Europameisterschaft in lateinamerikanischen Tänzen, und als sich Curt und Inge Schmid, die einzigen lateinamerikanischen Spezialisten unter den deutschen Turnierpaaren, anschickten, dieses Turnier für Stuttgart zu beantragen, waren noch alle Fragen offen. Insbesondere wusste noch niemand, ob Patrick-Key auf ihrem Baden-Badener Rumba-Stil beharren würden. Ja, man munkelte sogar, für alle Fälle hätten sogar Kontinent-Paare, dem Beispiel der Patricks folgend, auch auf "Cocktail" trainiert. Vielleicht ist es überhaupt nur der internationalen Freundschaft unter den Turnierpaaren zu verdanken, dass diese Meisterschaft mit einem Turnierpaar als Veranstalter von England beschickt wurde; denn während der Londoner Richardson-Cup-Turniere hatten Schmids die Möglichkeit gehabt, über die fachliche Auseinandersetzung hinweg menschliche Brücken zu schlagen. Der Ruf der Stuttgarter Liederhalle als vielleicht schönste Turnierstätte Europas hat zweifellos ein übriges dazu beigetragen.

Die Spannung, mit der die Turnierpaare und Funktionäre des grossen Turniers nach Stuttgart fuhren, wurde noch genährt durch die Nachricht, dass Lucien David, der ebenso scharfe wie kluge Verfechter der "reinen Rumba" zu den Wertungsrichtern zählen würde. Nun kann nach dem Skatingsystem ein Aussenseiter mit seinen Wertungsnoten ein Turnierergebnis nicht beherrschend beeinflussen, weil bei der Ausrechnung nach der Meinung der Mehrheit der fünf Richter gesucht, also nicht einfach addiert wird. Aber es war damit zu rechnen, dass Lucien David nicht der einzige Wertungsrichter mit der "strengen" Auffassung sein würde. Inzwischen hatte sich der ICBD (Internationaler Rat für Gesellschaftstanz, London, dem auch der Allgemeine deutsche Tanzlehrer-Verband angeschlossen ist) mit der Frage beschäftigt und den Turnierämtern zur Pflicht gemacht, den Paaren in der Ausschreibung bekanntzugeben, welche Rumba-Musik gespielt werde. Infolgedessen hatte als musikalische Stilrichtung "Rumba-Bolero- Beguine" in der Ausschreibung gestanden. Die ICBD-Entscheidung wird jedoch von den Paaren als "Gummiparagraph" bezeichnet, weil ein moderner Akzent, den das Orchester in die Rumba-Musik hineinbringen kann, den Paaren genügend Raum zur individuellen tänzerischen Gestaltung gibt.

So schwebte die Rumbakrise wie ein Schatten über den Vorbereitungen, und Fernseh-Regisseur Georg Friedel vom Südd. Rundfunk, dem die schwierige Aufgabe oblag, die angeschlossenen Eurovision-Stationen Europas mit einem verlässlichen, auf die Sekunde ausgerechneten Programm zu bedienen, musste allein der Rumba wegen für die Hauptszenen drei verschiedenen Versionen ausarbeiten, um seine vier Kameras sofort auf andere Ziele im Saal lenken zu können, wenn es Komplikationen geben sollte. Galt es doch, die Vorschriften der internationalen Turnierordnung mit dem Sekunden-Korsett der Fernsehtechnik auf einen Nenner und auf jeden Fall einem harmonischen Gesamteindruck auf den Bildschirm zu bringen, ob es nun Stockungen im Turnierablauf, in der Errechnung der Ergebnisse oder gar eine Stichrunde geben sollte, die wegzulassen gleichbedeutend mit einer Annullierung des Turniers gewesen wäre.

Turnieramtsleiter Heinrici und Turnierleiter Carl-Ernst Riebeling teilten vor Turnierbeginn den Paaren mit, dass die Wertungsrichter folgende Gesichtspunkte für die Rumba besonders scharf unter Kontrolle nehmen würden:

- Der Rhythmus soll nach Bolero - Beguine betont werden.

- Die tiefe Ronde, bei der die Partnerin, scheinbar auf der Tanzfläche sitzend, vom aufrecht tanzenden Partner gedreht wird, zieht Punktverluste nach sich.

- Das Paar soll auch in der offenen Tanzhaltung den Kontakt nicht aufgeben, die Partner sollen sich, auch wenn sie voneinander gelöst tanzen, doch stets mit den Fingerspitzen erreichen können.

Von den Sorgen der Turnierleitung und des Fernseh-Regiestabes unberührt - und so soll es ja sein - strömte Stuttgart zur Liederhalle, füllte sich der einzigartige Turniersaal mit einem festlich gestimmten Publikum, das als bunte Modenschau zu geniessen allein schon das Dabeisein wert gewesen wäre. Max Greger und Walter Dürr - der eigenwillige, äusserlich betont ruhige Münchener, der soviel rassiges Temperament aus seinen Trompeten- und Saxophonsätzen herausholt, dass man in den modernen Rhythmus hineingerissen wird, ob man musikalisch ist oder nicht, und der schon von der Besetzung seines Orchesters her klassischere Stuttgarter mit der kultivierten Tanzmusik waren ideal aufeinander abgestimmte Partner für die tanzfrohe Gesellschaft. Man sah der Jugend und auch der reifen Jugend an, wie gern sie sich bald durch Gregers "Fanfaren der Freude", bald durch Dürrs "Geigen der Seligkeit" tragen liessen.

Vor dem Anblick eines solchen Saales fallen wohl all die Schatten der mit unendlichen Mühen und Kleinarbeit durcharbeiteten Wochen selbst von Veranstaltern ab, die zwischen vielen Besprechungen und Hunderten von Telephongesprächen der technischen Vorbereitungen selbst noch trainieren mussten, um dieses ranghöchste lateinamerikanische Turnier Europas auch im tänzerischen Wettbewerb durchstehen zu können. Stuttgart dankte Curt und Inge Schmid für dieses Hochfest des Tanzes von den Begrüssungsworten an bis zum letzten Schautanz mit Stürmen der Begeisterung.

Natürlich gab es auch diesmal - wie so oft, wenn alles bis aufs berühmte i-Tüpfelchen ausgerechnet ist, für Turnierleitung wie Fernseh-Regie aufregende Zwischenfälle. Im D-Zug Padua - Brenner wurde dem italienischen Paar Primo und Roberta Lazzarini die Tasche mit den Pässen gestohlen. An der Grenze festgehalten, konnten sie Stuttgart nicht mehr erreichen. Das holländische Paar L.A. Daniels / L. von Altena aus Amsterdam erlitt unterwegs einen Wagenschaden. "Eine Stunde soll die Reparatur dauern! Wir hoffen, es bis zum Turnierbeginn zu schaffen", lautete ihre telephonische Nachricht. Obwohl Turnieramtsleiter Heinrici, Turnierleiter Riebeling und Beisitzer Musch den Plan der ersten Runden so ausrechneten, dass eine halbe Stunde Verspätung die Holländer noch an den Start hätte bringen können, rannen die kostbaren Minuten dahin - vergebens. Die Wagenreparatur dauerte fünf Stunden.

Für die Zuschauer waren diese erregenden Umstände nur Nachrichten am Rande; denn der Wirbel der lateinamerikanischen Tänze - diesmal mit dem Standard-Abkömmling Tango ein- und übergeleitet, zur kritischen Rumba und über die Samba zum Allgemeintanz-Fremdling Paso doble führend - riss die Stuttgarter schnell in den Bann der Vorrunde. Die mit Beifall aufgenommene Ankündigung einer Zwischenrunde hatte der Turnierleitung nur ein stöhnendes "Auch das noch!" entrungen; denn nun ging es wirklich auf die Sekunden, sollte die Fernsehübertragung, wie geplant, mit der Eröffnung der Endrunde eingeleitet werden.

Doch Carl-Ernst Riebeling hielt den seidenen Faden in festen Händen. Noch knapper ist wohl selten ein Turnierteam, ohne auf die notwendige Klarheit verzichten zu müssen, durch die Runden geführt worden. Dieser Turnierleiter mit der Stoppuhr in der Hand wurde noch nicht einmal nervös, als ihm der stürmische Beifall die Sekunden förmlich aus den Fingern riss.

Man hat die Köpfe freilich nicht rauchen sehen, als Fernsehregisseur Georg Friedel pünktlich die Kameras auf die Turnerleitung richtete und mit Riebelings Worten "Für die Endrunde der Europameisterschaft in lateinamerikanischen Tänzen haben sich qualifiziert..." beginnend, den erregenden Kampf der besten fünf Paare Europas weit über Stuttgart hinaus durch die sommerliche Herbstnacht zu den Empfangsschirmen in die angeschlossenen Länder des Kontinents schickte.

Die Iren, Sammy Leckie und Vera McCartan - die sechsten der englischen Rangliste in den Standardtänze, hatten die Endrunde ebenso wenig erreicht wie die Österreicher, Ehepaar Schücker, die nachgemeldeten Belgier Raymond Weiss / Frl. Vaillard sowie die Franzosen Désbruère und Partnerin. Sie hatten sich dem Urteil der Wertungsrichter beugen müssen. Nun fieberten die Kenner der Rumba-Frage ihrem Urteil für den kritischen Tanz entgegen. Hatte sich doch das "enfant terrible" von 1956, Patrick, im wesentlichen an die ergangenen Weisungen gehalten, wenn auch hin und wieder ausser Takt tanzend. Der Zufall wollte es, dass das Rumba-Ergebnis dem Endergebnis des Turniers entsprach:

Europameister: Roger und Micheline Ronnaux, Paris
2. Leonard Patrick / Doreen Key, London
3. Paul und Betty Doorme, Gent
4. Curt und Inge Schmid, Stuttgart
5. Albert und Trudi Schmucki, Zürich

Ronnaux gewann alle vier Tänze; Patrick belegte den zweiten Platz in Rumba, Samba und Paso doble; den zweiten Platz im Tango holten sich Schmid, während Doorme in allen Tänzen auf den dritten Platz kam, die Meister lagen mit Abstand vorn (vier Punkte), während das Mittelfeld - Patrick mit 11, Doorme mit 12, Schmid mit 14 Punkten - dicht beisammen und Schmucki mit 19 Punkten folgte.

Die Siegerehrung mit der wohl brillantesten Rumba-Schau der Welt als Ehrentanz der dreifachen Europameister Ronnaux war nur ein Höhepunkt; denn die einsetzende Tanzschau war eine Folge des Besten, das Europa den Hochfesten der Gesellschaftstanzes zu schenken vermag, eine Kette von tänzerischen Spitzenleistungen, in der jede für sich Krönung eines grossen Balles wäre: Curt und Inge Schmid mit ihrem Jive (internationale Bezeichnung für Boogie), Albert und Trudi Schmucki mit ihrem Slowfox, Paul und Betty Doorme mit ihrem Charleston, Sammy Leckie und Vera McCartan mit Quickstep und Tango, Leonard Patrick und Doreen Key mit ihrem Cha-Cha-Cha und noch einmal Ronnaux mit einer Cha-Cha-Cha-Exhibition, die den vorherrschenden Modetanz von heute ins Künstlerische übersetzte.

Was hier mit nüchternen Worten festgehalten ist, erlebten die Zuschauer am Bildschirm nach der Regie-Idee Georg Friedels als eine Harmonie aus Musik und tänzerischer Bewegung, die nur dort, wo unbedingt zum Verständnis erforderlich, durch Worte gedeutet werden sollte. Elena Gerhardt führte die Zuhörer mit den wachsamen Sinnen einer ebenso klugen wie feinfühligen Kommentatorin unaufdringlich durch die Fülle von Bildern und trug selbst durch ihre melodische Stimme zu dem grossen Erlebnis bei, das gegen alle lauten Störungen der Umwelt abzusichern, Georg Friedels grosse Sorge gewesen war. Von nichts kommt nichts! Wer auf der Oberfläche herumplätschert, kann nur oberflächliche Wirkung erzielen. Aussergewöhnliches muss immer hart erarbeitet werden. Um so erfreulicher ist es, dem Süddeutschen Rundfunk- Abteilung Fernsehen, aus Leserbriefen und -Hörurteilen nun auch Dank und Freude der Tanzturnierfreunde über das "schönste aller Fernseh-Turniere" weitergeben und Georg Friedel bestätigen zu können: Die Mühe hat sich vollauf gelohnt!

"Weiter so!" heisst es in einem Brief an die Redaktion. "Bei uns sassen Turnierfanatiker und - Neulinge, Tänzer und Nichttänzer, Grosseltern und Enkel zusammen. Und die Anfänger der Walzerseligkeit wie die Fans der Elvis-Presley-Platten waren sich einig in dem Urteil: Ein solches Programm würden wir mit Beifall jede Woche auf dem Bildschirm begrüssen!"

Setzen wir uns - nachdem dieselben Paare (ausser Schmids, jedoch mit Lazzarinis und Daniels / von Alena) - am drauffolgenden Sonnabend in Baden-Baden und (wieder mit Schmids) am Sonntag in Freudenstadt zur Begeisterung voller Säle getanzt haben - noch einmal an den Tisch der Experten. Dort wurden für den Tanzturnierfreund interessante Vorschläge entwickelt.

* Man sollte den Tango aus den lateinamerikanischen Turnieren herausnehmen und allein im Standardbereich belassen, um lateinamerikanisch in Zukunft über folgende Runden zu tanzen: Rumba, Samba, Paso doble, Cha-Cha-Cha und Jive. (Gerd Hädrich und Lucien David wollen diesen Antrag dem ICBD einreichen.)

* Die Rumba soll auch in Zukunft, ohne den Bolero - Beguine - Rhythmus zu verlassen, nach kontinentaler Auffassung getanzt werden, und zwar ohne tiefe Ronde, ohne Aufgabe des Kontaktes zwischen den Partnern.

* Die Deutsche Berufsmeisterschaft sollte über acht Tänze getanzt werden, um vor allem auch den Turniernachwuchs anzuspornen, sich mehr mit den lateinamerikanischen Rhythmen, die ja in den Modetänzen im Vordergrund stehen, turnierstilistisch zu beschäftigen. Tanzfolge : Langsamer Walzer, Tango, Slow-Foxtrott, Rumba, Quickstep, Samba, Paso doble, Wiener Walzer, oder auch in anderer Reihenfolge. (Antrag von Gerhard Hädrich an den Verbandsrat des ADTV.)

* In Zukunft sollte das neue Skating - System angewandt werden, nach dem der Beste in einem Tanz - gleichgültig wie er in den anderen Tänzen abgeschnitten hat, - unbedingt in die Endrunde kommen muss. Das Ergebnis des Freudenstädter Turniers, nach dem neuen System ermittelt, erschien gerechter, weil Sammie Lecky mit seinem, auch dem Ronnauxschen überlegenen Tango als Sechster unter den Preisträgern erschien, während der 3. Platz zwischen Doorme und Schmid geteilt wurde. Weitere Ergebnisse: 5. Schmucki, 2. Patrick, 1. Ronnaux.

Womit wieder einmal gesagt werden kann, dass die grossen internationalen Turniere nicht nur der Begeisterung, sondern auch dem Fortschritt im Tanzsport dienen. Und der Fortschritt, noch ausgefeiltere Wertungsgrundlagen zu schaffen, wäre ein ganz besonders erfreulicher, weil er der Gerechtigkeit dient.

HGS (Hans-Georg Schnitzer)



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